Interview: Corona-Krise sorgt für viel Stress und Unsicherheit

31.08.2020

Die Auswirkungen der Corona-Krise gehen an niemandem von uns vorbei. Was das bei Menschen mental anrichtet, darüber und über vieles mehr haben wir uns mit Martin von Hagen, Ärztlicher Leiter des Zentrums für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Werra-Meißner, unterhalten.

1. Herr von Hagen, welche mentalen Auswirkungen der Pandemie beobachten Sie als Facharzt für Psychiatrie/Psychotherapie bei den Menschen – Ängste, Sorgen, Depressionen wegen sozialer Isolation?
Angst um die eigene Gesundheit, Angst um den Job, traditionsreiche Unternehmen, die anfangen, wirtschaftlich zu torkeln, neue Unternehmen, die bald wieder dicht machen können, Kultur, die von heut auf morgen aufhört zu existieren - die Corona-Krise sorgt bei Arbeitnehmern und Selbständigen für viel Stress, Unsicherheit sowie ein schwieriges Arbeitsumfeld. Dies bildet den idealen Nährboden für psychisches Leid.

2. Leben ängstliche Menschen aktuell gewissermaßen sogar ein Stück sicherer? Viele Menschen reizen die sozialen Lockerungen ja immer mehr aus und haben keine Angst vor einer Infektion oder der „zweiten Welle“.
Wider Erwarten haben wir auf dem Höhepunkt des Lockdowns weniger Aufnahmedruck gehabt als gedacht. Insofern könnte man annehmen, psychisch kranke Menschen leben sicherer vor der Infektionsgefahr. Dies liegt auch teilweise in der Natur ihrer Erkrankung. Sie ziehen sich zurück, isolieren sich, nehmen wenig Kontakt zu ihrer Umwelt auf. Kurz gesagt: sie verhalten sich wie schwer organisch Erkrankte und bleiben zuhause. Dies ist aber nur eine scheinbare Sicherheit. Diese erkaufen sich psychisch Kranke mit einer weiteren Chronifizierung ihres Leidens oder sogar mit einer akuten Dekompensation ihrer Erkrankung. Um ein positives Behandlungsergebnis bei psychischem Leid zu erreichen, ist jeder auf regelmäßige Kontakte und Teilhabe an der Gesellschaft angewiesen. Darum erscheinen mir z.B. die Besuchsverbote in Alten- und Pflegeheimen, insbesondere wenn dort keine Covid-19 -Infektion zu verzeichnen sind, als unangemessen. Ausbleibende Behandlungen werden die Kosten für psychische Erkrankungen weiter in die Höhe treiben.

3. Wie viel Angst vor der Pandemie ist angemessen?
Trotz Lockerungen der Maßnahmen und einer gewissen Gewöhnung an die AHA-Regel hat uns das Erleben der Pandemie verändert oder zumindest tiefe Eindrücke hinterlassen. Außerdem ist es noch nicht vorbei - das bedeutet, dass viele von uns sich zwar recht sicher fühlen, aber gleichzeitig merken, dass es völlige Sicherheit nicht geben kann. Diese Unsicherheit verbunden mit Einsamkeit kann zu Auswirkungen auf die Psyche führen. Auf psychisches Wohlbefinden, die Affektbilanz, den Selbstwert und die allgemeine Gesundheit schlägt sich die Coronakrise negativ nieder. Hinzu kommt Angst vor der Erkrankung, Existenzängste und Unsicherheit über den weiteren Verlauf der Pandemie. Sowohl bei Gesunden wie auch bei psychisch Kranken können diese Faktoren zu Depressivität, Angst, Wut, Schlafstörungen und Stress führen.
Zu was es noch führen kann, haben wir letztes Wochenende in Berlin erlebt. Die lange Dauer und die Nichtgreifbarkeit des Virus haben bei einigen offensichtlich zu besonderen Problemen geführt.

4. Verzeichnet das Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikum Werra-Meißner einen Anstieg an Patientenzahlen wegen der Auswirkungen der Pandemie? Oder zumindest innerhalb eines bestimmten Krankheitsbilder (z.B. Depression)?
Wie gesagt, wir haben derzeit noch keinen stationären Aufnahmedruck. Gleichwohl sind unsere Ambulanzen extrem ausgelastet. Hier haben wir schon eine Steigerung der Fallzahlen zu verzeichnen gegenüber dem Vorjahr. Ich gehe davon aus, dass wir einen “heißen” Herbst erleben werden, der uns sehr schwer Erkrankte zur Aufnahme bringen wird.

5. Hält das ZPP wegen der Corona-Pandemie besondere Angebote vor?
Patienten aller Diagnosegruppen sind von den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie betroffen und damit assoziierte Belastungen müssen aktiv erfragt werden. Dies gilt auch für die eigenen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die tagtäglich mit den Folgen der Infektionserkrankung konfrontiert sind. Deswegen haben wir ein Kriseninterventionsteam aus Psychologinnen und Ärztinnen zusammengestellt, die bereit sind ohne Wartezeit ihre therapeutischen Kräfte hierfür einzubringen. Über die 05651-821111 ist unsere Hotline rund um die Uhr zu erreichen und ärztlich besetzt.

Vita: Martin von Hagen (73) war von 1986 bis 2002 Ärztlicher Direktor des Psychiatrischen Krankenhauses am Meißner, danach Chefarzt des Zentrums für Psychiatrie und Psychotherapie in Eschwege bis Dezember 2014 und bekleidet seit März 2019 wieder diesen Posten.

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